Geschichten

Auf dieser Seite sollen besondere Schicksale, Ereignisse, Erzählungen zu einzelnen Personen aus den Familien dargestellt werden. Auch Kurioses, falls entdeckt, wird hier erscheinen. Viel Spaß beim Lesen!

Familie Kohlhas

1678 - Von einem Münsterischen Reuter auf der Kirchmeß erschossen

Jacob Kohlhaß ist ungefähr 1635 in Luckenbach geboren. Er wird vermutlich im Kloster Marienstatt getauft, wie alle Einwohner in den Dörfern rund um das Kloster, die trotz Einführung der evangelisch-reformierten Glaubenslehre im Jahre 1561 in der Grafschaft Sayn ihren katholischen Glauben behalten haben. Jacob ist der älteste nachgewiesene Vorfahr der Familie Kohlhas.

 

Um 1660 heiratet er Maria, über die nichts weiter bekannt ist. In den nächsten Jahren werden 7 Kinder geboren:

Johannette im Juli 1661

Trein im Januar 1663

Wilhelm im Februar 1664

Peter im Dezember 1666

Gerhard im August 1668

Strin ca. 1670

Johann, von dem nur bekannt ist, dass er im Dezember 1680 gestorben ist

 

Die Familie lebt in Luckenbach von der Landwirtschaft und kann sich in guten Jahren wahrscheinlich gerade so ernähren, in schlechten Zeiten wird es eng. Besonders eng wird es aber, wenn Vater oder Mutter sterben, solange die Kinder noch nicht erwachsen sind. Dieses Schicksal jedoch, dass der Vater so früh stirbt, ereilt diese Familie im Jahr 1678.

 

Der Eintrag im Kirchenbuch von Kroppach, Sterberegister 1678, ist trotz dieser Notsituation der Familie und des außergewöhnlichen Sterbegrunds geschäftsmäßig neutral:

16. Maij, wurde begraben Jacob Kohlhaß zu Luckenbach, welcher negst verwichenen Sontag zu Marienstatt uf der Kirchmeß von einem Münsterischen Reuter, unter Herrn ObristLieutenant von Mumm Compagnie, erschoßen worden. Der Thäter heist Johan Roß.

 

Nun wird auf der Kirchmeß oft gerauft, überwiegend von Jugendlichen. Aber auch bei den älteren Männern steigt das Bier aus der klösterlichen Brauerei ab und zu ins Blut. Dass aber geschossen wird, kommt eher selten vor. Und dann noch von einem auswärtigen Soldaten, der unter der Fahne des Bischofs von Osnabrück reitet.

 

Maria mit ihren Kindern im Alter von 17 bis 10 Jahren schlägt sich vermutlich ohne wieder zu heiraten durch. Jedenfalls kann kein Heiratseintrag von ihr gefunden werden. Von Johannette und Trein ist nichts weiter bekannt, Wilhelm heiratet 1690, Gerhard 1694 und Strin 1695. Johann stirbt 1680 und Peter 1681.

 

Soldaten aus Osnabrück (wahrscheinlich die Münsterischen Reiter) und Lüneburg überwintern noch 1678/1679 in Hachenburg. Gerichtsakten gibt es zu diesem Fall nicht. Eine Bestrafung des Täters ist auch eher unwahrscheinlich. Das Kloster Marienstatt, auf dessen Wiese die Kirchmeß stattfindet, hat vielleicht etwas aufgezeichnet. Aber das Archiv ist nicht zugänglich und das Sekretariat antwortet nicht.

 

So bleiben die Begleitumstände der Tragödie leider im Dunkeln.

 

Quellen:

  • Müller, Markus: Gemeinden und Staat in der Reichsgrafschaft Sayn-Hachenburg 1652-1799, Wiesbaden 2005, S. 33
  • Kirchenbuch Kroppach
  • Trautmann, Dieter: Beiträge zur Ortsgeschichte von Luckenbach am Luckenbach im Westerwald, Luckenbach 2011, S. 466

 

 

1933 - Entlassung aus dem Dienst als politisch missliebiger Polizeibeamter

Im September 1933 kommt mit der Post ein schicksalschweres Schreiben des Preussischen Ministers des Innern aus Berlin in die Huckingerstrasse 24 in Duisburg-Hamborn. Adressat ist Paulinus Kohlhas, seit 22 Jahren bei der Kriminalpolizei, jetzt im Dienstgrad Kriminal-Kommissar. Er hat eine Familie mit vier Kindern im Alter von 13 bis 21.

 

ReichsgesetzblattDas Scheiben informiert ihn in kurzem Amtsdeutsch über seine Entlassung aus dem Dienst nach §4 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums. Weiterhin wird er informiert, dass für die folgenden 3 Monate es bei der Belassung der bisherigen Bezüge bleibt und er danach Ruhegeld bekommt.

 

Das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums ist am 7. April 1933 verabschiedet worden. Es klingt im Titel harmlos, erlaubt jedoch den nationalsozialistischen Machthabern politisch missliebige und jüdische Beamte aus dem Dienst zu entfernen. Paulinus hat bisher allen Aufforderungen zum Beitritt der NSDAP widerstanden, er ist überzeugtes Mitglied der katholisch konservativen Zentrumspartei.

 

Kurz darauf geht der Bescheid über das zukünftige Ruhegeld ein. Es sind 240,94 Reichsmark. Man kann sich vorstellen, dass dieses Ruhegeld als alleinige Einkünfte für eine 6köpfige Familie in einer Stadt weder zum Leben noch zum Sterben reicht. Im Juli 1936 zieht die Familie daher um in den heimatlichen Westerwald. Juliana, die Frau von Paulinus, hat aus ihrer wohlhabenden Familie ein Haus in Kotzenroth zur Verfügung, das jetzt als Refugium dient. Das Haus steht direkt gegenüber der Kirche und ist schon seit Generationen eine Gast- und Schankwirtschaft.

 

Paulinus beantragt daher guten Mutes eine Genehmigung zum Ausschank und zur Beherbergung von Gästen und bekommt sie vorläufig zuerkannt. Nach 2 Jahren, im September 1938, wird aber die endgültige, offizielle Erteilung der Genehmigung wegen politischer Unzuverlässigkeit abgelehnt. Wer hat ihn in Kotzenroth verpfiffen, wer hat mit unschuldiger Miene an der Theke sonntags nach der Kirche den politischen Diskussionen gelauscht und dann Meldung an den Parteiapparat erstattet? Der September scheint für Paulinus ein Schicksalsmonat zu sein. Trotz aller Rückschläge bringt er seine Familie dort auf dem Lande leichter durch, als in der Stadt. Er hat Äcker, Wiesen und Waldanteile, so dass keiner verhungert.

 

Nach Kriegsende, im März 1948, stellt Paulinus einen Antrag auf Entschädigung wegen politischer Verfolgung. Als Wiedergutmachungssumme errechnet er grob 25.000 bis 30.000 Reichsmark. Im Juni 1948 entscheidet der Landrat in Altenkirchen: Paulinus Kohlhas wird nicht als Opfer des Faschismus anerkannt. Im Falle eines Wiedergutmachungsgesetzes werden seine Anspüche erneut überprüft.

 

1949 erlassen die Länder ihre entsprechenden Gesetze. Sie haben ihren Fokus auf der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts im öffentlichen Dienst. Also genau auf den Fall von Paulinus passend. Am 15.06.1950 schreibt ihm das Amt für Wiedergutmachung und kontrollierte Vermögen, dass sein Wiedergutmachungsanspruch bestätigt wird und die Akte an das Wiedergutmachungsamt in Duisburg weitergeleitet wird.

 

Und hier verliert sich die Spur im Landeshauptarchiv Koblenz, in der die Akte unter Bestand 540.001, Nr. 1895 schlummert. Die Fortsetzung kann man sicher in Nordrheinwestfalen finden.

 

Aber es ist wohl so, dass Paulinus schließlich doch noch eine vergleichbar geringe, und inzwischen abgewertete Geldsumme als Wiedergutmachung bekommt. Sie ist sicher in den Neubau eines großen Hauses mit Pensionsbetrieb eingeflossen.

 

Familie Ermert

1759 - 12jähriges Mädchen in Abwesenheit der Eltern zu Hause erschossen

Das 12 Jahre alte Mädchen Maria Katharina Ermert wird um 17 Uhr am 12. August 1759 im elterlichen Haus in Betzdorf erschossen. Ein erster Hinweis auf dieses Unglück, oder ist es ein Mord, findet sich in einem Nachtrag zum Taufeintrag im Kirchenbuch der ev. Pfarrkirche zu Kirchen/Sieg. Er lautet: † totgeschossen d. 12ten Aug. 1759, alt. 12 J.

 

Im Sterbeeintrag kann man folgende Geschichte lesen:

d. 12ten Aug. abends um 5 Uhr Dom. 9 p.Tr. [9. Sonntag nach Trinitatis] wurde in der Johann Peter Ermerts zu Betzdorf Behaußung in abwesenheit beyderseits Eltern, von einem cathol. 18jährig Bursch aus Alßdorf: Johann Gerlach Buhl, gedachten Johann Peter Ermerts und dessen Eheweib Elisabethen eine gebohrene Capitoin jüngste Tochter, Maria Catharina Ermertin in den rechten Schenkel mit ein Flint, mit wascheißen geladen, so geschossen, daß weil alle adern zerrissen sie sich in wenig Minuten zu Tode geblütt, alt. 12 jahr, 1 Monat, 1 woch, 4 Tag, und wurde d. 14 [Planetenzeichen Mars = Dienstag] h. 10. mat. [10 Uhr vormittags] bey zahlreicher Leich Begleitung, vor einer Leichpredigt, allhir zur Erd bestattet.

 

Es geschieht an einem Sonntag im August, nachmittags um 5 Uhr. Die Eltern sind nicht zu Hause. Befindet sich Maria Katharina mit ihren 12 Jahren allein im Haus oder sind ihre Geschwister, der 18 jährige Johann Anton, der 17 jährige Johann Peter und die 14 jährige Maria Margaretha ebenfalls anwesend?

Ist der Bursch aus Alsdorf, einem Nachbarort von Betzdorf, in der Familie bekannt? Ist er vielleicht mit einem der Brüder von Maria Katharina befreundet und wird deshalb ins Haus gelassen? Haben die Jungs mit der Flinte herumgespielt, so dass sich ein Schuss lösen konnte und unglücklicherweise das Opfer traf?

Alle diese Fragen können heute nicht mehr beantwortet werden. Es spricht aber einiges gegen einen Unglücksfall.

 

Der Pfarrer nennt den Namen des Täters und fügt hinzu, dass er katholisch ist. Das deutet vielleicht darauf hin, dass er den genaueren Hergang kennt und seine Kirche von der Untat reinhalten will.

Der junge Täter bringt eine Flinte mit, die offensichtlich mit Wascheisen bereits geladen ist. Dabei handelt es sich um das in Hochofenschlacken körnerförmig eingeschlossene Eisen, welches durch Auswaschen gewonnen wird. Es kann davon ausgegangen werden, dass man an einem Sonntag nicht mit einer geladenen Flinte zu Besuch kommt.

Einer Möglichkeit, dass Johann Gerlach Buhl, der Täter, mit einem der Brüder von Maria Katharina befreundet ist und eventuell mit diesem an der Flinte herumgespielt hat, muss man entgegenhalten, dass in diesem Fall wohl eine schnelle Hilfe durch die Geschwister und Nachbarn möglich gewesen wäre. Aber Maria Katharina ist verblutet und weder der Täter noch Geschwister oder andere scheinen geholfen zu haben.

 

 

1767 - Heirat ohne Konsens der Eltern

Anton Ermert ist der erstgeborene Sohn von Johann Peter Ermert, Einwohner in Betzdorf, und seiner Frau Elisabeth Katharina, geb. Capito. Im elterlichen Haus ist die Magd Agnes Beyer beschäftigt. Anton verliebt sich in sie und möchte sie heiraten. So fangen viele Liebesdramen an, es ist kein Einzelfall.

 

Seine Eltern stimmen dem Vorhaben ihres Sohnes nicht zu, vielleicht aus Standesgründen. Anton lässt sich aber in seinen Plan nicht hineinreden und meldet die Hochzeit beim Pastor in Kirchen/Sieg an. Aufgrund der fehlenden Einwilligung der Eltern wird die Genehmigung der gräflichen Kanzlei in Altenkirchen eigeholt. Diese urteilt ganz modern im Sinne der Verlobten und übermittelt die Entscheidung, dass die beiden zu trauen seien.

 

Der Text des Eintrags in das Kirchenbuch verdient, hier zitiert zu werden:

Johann Anton Ermert, Johann Peter Ermerts, Einwohners zu Betzdorf eheliger ältester Sohn, welcher sich mit der Eltern Magd versprochen, wozu dieselben den Consens ohne erhebl. Ursache verweigert, ist auf suppliertem Consens der Canzley zu Altenkirchen und beygebrachter Erlaubniß in Betzdorf nach vorhergegangener Proclamation privatim copulirt zu werden; mit besagter Magd

Maria Agnes Bayerin, weihl. Johann Georg Bayers ehmaligem Einwohner zu Kirchen, nachmaligem Bürgers zu Freußburg ehliger 2ter Tochter, zu besagtem Betzdorf den 24. 9br. (24. November) durch mich getraut worden, bey zahlreicher Versammlung, deren sich aber des Bräutigams Eltern und Geschwisterte entäußert.

 

Das Zerwürfnis der Eltern mit Sohn und Schwiegertochter muss sehr groß sein, wenn sie nicht der Trauung beiwohnen und den Geschwistern ebenfalls Absenz auferlegen. Ob Anton wegen seiner Auflehnung gegen den elterlichen Willen enterbt wird, ist nicht bekannt. Aber in der Gebäudeliste von Betzdorf aus dem Jahr 1787, also 20 Jahre später, ist nur Johann Peter, der zweitgeborene Sohn, mit Haupt- und Nebengebäuden von erheblichem Wert aufgeführt. Offenbar hat Anton aus Liebe auf einen bequemen Einstieg in das Erwachsensein verzichtet. Das ehrt ihn ungemein.

 

Familie Gedrath

1811 - Von Franzosen aus dem Memelland nach Wesel verschleppt

In einem Brief vom 31. Januar 1939 von Tante Luise aus Arnsberg an eine Nichte Luise wird eine interessante Geschichte erzählt. Sie passiert im Jahre 1811 oder 1812 in Trackseden im Memelland und betrifft den Großvater von Tante Luise, Christoph Gedrath, der sich damals noch Kristups Gedratis nennt.

 

Christoph ist am 1. Juni 1797 in Trackseden im Kirchspiel Willkischken geboren. Vom Namen Gedratis und dem Mädchennamen seiner Mutter Tomussait her, gehört er zu den litauischen Bauernfamilien im preußischen Grenzgebiet zum damaligen Litauen. Die kleine Geschichte, die gleich im Wortlaut angefügt wird, ist Ausdruck der fieberhaften Forschung nach den Vorfahren, weil für die meisten Ausbildungsgänge und Berufe im Dritten Reich ein mehr oder weniger umfangreicher "Ariernachweis" gefordert wird. "Sippenforscher", wie sie damals genannt werden, haben Hochkonjunktur.

 

Doch hier nun der Auszug aus dem Brief:

Onkel Albert besitzt einen Brief von Tante Albertine, in dem sie schrieb, dass ihr Vater als 14jähriger bei Nacht und Nebel bei Tilsit aus dem Hause geholt, auf Schlitten gebunden, von den Franzosen in Uniform gesteckt und verschleppt worden sei, (ich nehme an, nach Wesel, 1813). In der Trauurkunde der Militärgemeine Wesel heisst es nur aus Fragseda, Reg. Bez. Gumbinnen. Die Regierung in Gumbinnen kennt einen Ort Fragseda nicht und meint, es dürfte Trakseden, Kreis Heydekrug, jetzt Memelgebiet, also Litauen in Frage kommen und verweist an das Deutsche Gem. Konsulat in Memel, das jedoch nicht antwortet. Da Chr. Gedrath als Soldat 1825 in Wesel geheiratet hat, hat O. Albert versucht aus den Stammrollen der damaligen Zeit etwas zu erfahren und ist schliesslich beim Heeresarchiv in Potsdam gelandet. Von dort hat er jetzt Bescheid bekommen: In der hier vorliegenden Stammrolle der 11. Komp. des 13. Inf. Reg. für 1825 ist der Sergeant und Fourier Chr. G. verzeichnet, geb. 1.6.1797 in Tragseda, Kreis Schöttlach, Reg. Bez. Gumbinnen, ev. Relig. Datum der Einstellung 9.11.1816 (Abgang nicht vermerkt), Grösse 5 Fuss 5 Zoll 2 Strich (=1,71 m). Weitere Eintragungen enthält die Stammrolle nicht.

Soweit das Zitat.

 

In den geschichtlichen Zusammenhang gestellt, muss man vermuten, dass französische Soldaten nach dem Rückzug aus Russland im Dezember 1812 geeignete junge Männer für ihre stark geschwächte Armee aus dem Lande rekrutieren. Dass dies nicht immer nach offiziellen Verfahren erfolgt, ist sehr wahrscheinlich. Freiwillig mitgelaufen ist Christoph mit Sicherheit nicht. Aber wie kommt Tante Luise zu ihrer Anmerkung: ich nehme an, nach Wesel, 1813?

 

Wie schnell Christoph nach Wesel gekommen ist, ist nicht bekannt. Die Festung Wesel wird 1805 von Preußen an Napoleon abgetreten und erst 1815 wieder unter preußische Herrschaft eingegliedert und zur Garnisonsstadt ausgebaut. Es kann daher angenommen werden, dass Christoph nach seiner Ankunft in Wesel zunächst noch Soldat der französichen Armee ist, bis dann am 9. November 1816 der Eintritt als Sergeant in das preußische 13. Infanterie Regiment erfolgt. Da sein Traueintrag von 1825 im ev. Militärkirchenbuch von Wesel zu finden ist, ist er zu dieser Zeit wohl noch Soldat.

 

Die bekannten Kinder von Christoph Gedrath, wie er sich jetzt nennt, und seiner Frau Getrud Rapp sind ab 1832 in Lienen-Kattenvenne bei Münster geboren. Dort ist sein Beruf als Grenzaufseher angegeben.

 

Mit seinem ältesten Sohn Heinrich zieht er und seine Frau, vermutlich nach seiner Pensionierung als Zollbeamter, noch nach Hamburg um. Dort stirbt er am 6. Oktober 1865 im Alter von 68 Jahren nach einem insgesamt doch sehr ereignisreichen Leben.

 

 

Vor 1900 - Die "Villa Margarethe" in Hann. Münden
Villa Margarethe
Postkarte mit der "Villa Margarethe"

Eine Postkarte vom 14. Februar 1900 zeigt ein geräumiges Haus mit Türmchen, Freitreppe, Loggia und großem Balkon. Es steht in der Werrastraße in Hannoversch Münden und ist wohl kurz vor 1900 fertig gestellt worden. Bauherr ist Otto Gedrath, der vor nicht allzu langer Zeit zugezogene Kaufmann aus Hamburg.

 

Der Text ist eigentlich nicht so wichtig, aber vielleicht sollte er doch für die Jüngeren, die die alte Schrift nicht mehr lesen können, hier genannt werden.

Münden d. 14.2.1900

Liebe Eltern!

Uns geht es sehr gut. Lilly ist sieben rauf gekommen im Diktat u. Ellen fünf. Heinz ist heute zu Giesbert's Geburtstag eingeladen.

Herzlichen Gruß und Kuß v. deiner Tochter Emmy.

Es folgen noch die Unterschriften der beiden genannten Schwestern: Lilly Gedrath. Ellen Gedrath.

Danach noch ein kleiner Gruß der Haushälterin: Von Heinz u. mir herzl. Gruß, die Kinder sind sehr artig u. vernünft. Ihre E. Uhl.

 

Villa MargaretheZum Bau der "Villa Margarethe" gibt es einen wunderbaren Artikel aus einer Mündener Zeitung, leider ohne Datum. Die Kolumne "Sonntagsplaudereien", welche nach diesem Beitrag vorläufig geschlossen wird, weil ein "Ausspannen" des Redakteurs dies "gebieterisch erforderlich" macht, beschäftigt sich mit dem Haus und dem Bauherrn.

Der Neubau "Villa Margarethe" des Fabrikanten Gedrath nähert sich der Vollendung als ein von den Wogen der Werra umbrandeter Prachtbau. In den Formen der Frührenaissance, die noch Einzelzeichen spätgothischer Ausklänge erkennen läßt, gehalten, ist durch diesen Bau dem Stadtpark ein Schmuckkästchen erstanden, das aus der Nähe und Ferne, besonders vom Questenberg betrachtet, in seiner reizvollen Abhebung den Beschauer unwillkürlich fesselt! - Durch ebenso ansprechenden, als gelungenen Wechsel in Aufbau und Gliederung der Giebel, Anordnung und Einfügung des Dachstuhls und des vorgelagerten Thurmes, der Vorsprünge, Freitreppe, Ausluge, Schornsteine u.s.w., ist hier bei Verwendung wenig bildnerischen Schmucks ohne Anwendung leuchtender Farben ein Bauwerk geschaffen, dessen hervorragende, hohe Anerkennung verdienende Formschöne zu äußerst malerischer Wirkung gelangt. Dabei sind die außen vorspringenden Erker und Winkel im Innern zu den verschiedensten Gelassen so zweckmäßig eingerichtet und ausgenutzt, daß das Verdammungsurtheil über die von uns seit Jahren bekämpften unschönen Kastenbauten wohl endlich bald allgemein gesprochen werden dürfte. -

 

Der Bauherr G. ist geborener Hamburger und so sehen wir denn am nördlichen Giebel rechts das Hamburger, links das Mündener Wappen angebracht; ein weiteres (Phantasie)-Wappen ziert die Ostseite. Spitze und Seite des Dachstuhls werden von drei als luftige Gebilde keck gen Himmel strebende Schornsteine bekrönt und flankiert. Dach und Schornsteine sind mit gelbroth glasiertem Möncheberger Ziegel, die Thurmhaube mit Schiefer abgedeckt. Dem Ganzen gewährt das junge grüne Blätterdach der mit ihrem Zweiggewirr den Gesamtbau weit überragenden alten Parkbuche entzückenden Hintergrund. Zu besonderer Geltung kommt die Nordseite des Baues und bietet diese, sowie die Westseite von den mit prächtigen Maßwerkfüllungen oder Baluster bewehrten Brüstungen der Vorlauben, Austritten und Balkonen aus zugleich herrliche Umschau auf den Blümerberg mit dem vorliegenden Sonnenlande "Blumenau", (dessen kürzlich zur Veröffentlichung gebrachte Bauordnung, besonders in den Satzungen 1, 5 und 7 gute Folgen zeitigen wird). - Wie mag erst das Bauwerk übersichtlich und glanzvoll dastehen, wenn der Garten in Ordnung und an Stelle der todten Backsteinmauer (bei Erweiterung des Werraweges) ein Eisengitter angebracht sein wird und Vorhänge, Gardinen, Blumen u.s.w. Fenster und Vorlauben verschönen und das Haus belebter gestalten werden! ... Zu dem so schön gelungenen, herrlichen Bau beglückwünschen wir Herrn Carl Arend herzlich und hoffen, daß von dem reichen gestigen Formenschatz des jugendlichen Architekten noch manches genial gestaltete Gebilde zum Wohle des Außenbildes unserer Stadt und des Mündener Bauwesens gezeitigt werde. Leider wohl nicht auf die Dauer, denn auch für Carl Arend gilt das Wort, das dessen Großvater W. Lotze in seiner "Geschichte von Münden" (S. 260) dem damals gleichfalls noch jungen Bildhauer G. Eberlein mit auf den Künstlerlauf gegeben.. -

 

Hier endet die sehr im Stil der Jahrhundertwende geschriebene Geschichte und es bleibt nur noch aufzulösen, wie es zu dem Namen der "Villa" kommt. Ganz einfach und fast wie bei der Schifftaufe: Der Vorname von Otto Gedraths Frau ist Margarethe.

 

Familie Schroeter

1820 - Pastor August Schroeter hört die Glocken läuten

August Ernst Traugott Schroeter, so lautet sein voller Name, heiratet am 11. Juli 1820 Augusta Amalia Weinholdt in der Dreikönigskirche in Dresden. Mit Sicherheit läuten zu diesem Anlass die Hochzeitsglocken. Aber es gibt auch noch einen zweiten Grund, warum der 32-jährige Pastor zu Krawinkel und Plößnitz im Herzogtum Sachsen die Glocken läuten hört:

Augusta Amalia gehört zu einer sehr bekannten Stück- und Glockengießerfamilie, die hier vorgestellt werden soll.

 

Ihr Bruder Heinrich August, ihr Vater August Sigismund sowie ihr Großvater und Urgroßvater sind Stück- und Glockengießer im Dienste des sächsischen Königs bzw. Kurfürsten. Viele Glocken aus ihrer Werkstatt kann man noch heute hören, einige Bronzegeschütze sind noch u.a. in der Feste Königsstein und der Veste Coburg zu sehen.

 

Schon 1567 läßt Kurfürst August eine Glockengießerei neben dem sächsischen Hauptzeughaus errichten. Als Friedrich August I. (der Starke) 1694 sehr jung die Regentschaft übernimmt und auch 1697 König von Polen wird, erfährt er von dem Gießer Michael II. Weinholdt (Sohn des Gießers Michael I. in Danzig) der 1695 seine Meisterprüfung ablegt und sich noch im selben Jahr für das Amt des Ratsgießers in Lübeck bewirbt. Vermutlich ist die Bewerbung in der Hansestadt nicht erfolgreich, so dass August der Starke ihn nach Dresden holt, wo er 1698 als Kurfürstlicher Sächsischer Stück- und Glockengießer seinem Vorgänger Andreas Herold nachfolgt.

 

Kniebild Michael Weinholdt
Kniebild Michael Weinholdt

Er erwirbt sich durch kunstreich verzierte Bronzekanonen die Gunst des Kurfürsten. Das nebenstehende Bild zeigt ihn mit einem gegossenen Bronzerohr, dem unentbehrlichen Zirkel in der rechten Hand und einer Kanonenkugel in der linken. Es stellt ihn in den Räumen der Gießerei dar, wie man im Hintergrund sehen kann. Die Beschreibung besagt:

 

Michael Weinholdt, Gedanensis, Regiae Polon. Majest. et Electoris Saxoniae, Artis Metallicae in Tormentis et Campanis Fusoriae Constitutus Magister Dresdae.

Michael Weinholdt, aus Danzig, wohlbestallter Dresdner Meister des Metallhandwerks der Stück- und Glockengießerei seiner Majestät des Königs von Polen und des Kurfürsten von Sachsen.

 

Das Portrait ist nach einem Bild des Dresdner Malers Johann Georg Böhm der Ältere im Jahr 1726 von Johann Georg Bodenehr als Kupferstich gestochen worden. Es gehört heute zur Sammlung des Kupferstich-Kabinetts Dresden. (Veröffentlicht mit Genehmigung der SLUB Dresden / Abt. Deutsche Fotothek, Foto: Regine Richter, Mai 1992)

 

Im beschreibenden Teil ist mittig das Familienwappen der Weinholdts eingefügt, das einen Weinstock zeigt.

 

Eine der zehn erhalten gebliebenen schwersten Glocken in Sachsen wurde von ihm 1721 gegossen (5.450 kg) und befindet sich in Schneeberg, St. Wolfgang.

 

Kniebild Johann Gottfried Weinhold
Kniebild Johann Gottfried Weinholdt

Michael II. Weinholdts Sohn, Johann Gottfried, führt das Handwerk fort und wird nach dem Tode seines Vaters 1732 Kurfürstlich Sächsischer Gießerei-Inspektor. Als solcher erhält er ein Privileg für den Glockenguss in Sachsen. Auch er gießt zahlreiche Bronzegeschützrohre und Glocken, die heute noch erhalten sind. Eine dieser Glocke befindet sich in der Hofkirche (Kathedrale) zu Dresden. Sie zählt mit ihren 4.830 kg ebenfalls zu den schwersten Bronzeglocken, die es heute noch in Sachsen gibt.

 

Im Jahr 1737 kauft Johann Gottfried ein Gut, das in seiner Zeit "Stückgießers" genannt wird. Zusammen mit einem weiteren Gut gehört es zu dem 1640 gegründeten Vorwerk Tatzberg. An diesem Teil des Ufers der Elbe, an der heutigen Blumenstraße, stehen zu dieser Zeit nur wenige Häuser. Noch bis 1874 besteht in dieser Gegend ein Bauverbot. Zum Gut "Stückgießers" gehört eine Schänke, die sich ab 1866 "Güldene Aue" und ab 1901 "Blumensäle" nennt.

 

Wie auch das Bild seines Vaters zeigt nebenstehender Stich Johann Gottfried in der Gießerei mit einem Kanonenrohr. Es ist von Johann Elias Haid 1770 gestochen, nach einem Gemälde von Anton Graff, einem Maler und Mitglied der Kunstakademie in Dresden. Die Beschreibung besagt:

 

Johann Gottfried Weinholdt, gebohren zu Dresden 13 Juny 1700, diente Sr. Königl. Maj. in Pohlen und Churfürstl. Durchl. zu Sachßen Fr. Augusto II. Augusto III., Fr. Christiano I. Fr. Augusto IV. als wohlbestallter Gießerey Inspector.

 

Das Bildnis gehört ebenfalls zum Kupferstich-Kabinett. (Veröffentlicht mit Genehmigung der SLUB Dresden / Abt. Deutsche Fotothek, Foto: Regine Richter, Mai 1992)

 

Als Johann Gottfried am 8. Februar 1776 am Schlagfluss (alte Bezeichnung für Gehirnschlag) stirbt, tritt sein Sohn August Sigismund die Nachfolge als Gießerei-Inspektor an. 1766 ist er bereits als Gießerei-Adjunktus in der Gießerei verzeichnet. Auch er beantragt das seinem Vater gewährte Privileg für den Glockenguss in Sachsen, erhält aber nur ein auf Dresden und seine Umgebung eingeschränktes Privileg. Von ihm sind ebenfalls noch einige Glocken erhalten, so u.a. eine Glocke von 1787 in der Kreuzkirche in Dresden.

 

Heinrich August, der Bruder der Braut Augusta Amalia, folgt seinem Vater in der Gießerei-Tradition nach dessen Tod 1796 nach. Ihm sind aber nur noch wenige Jahre beschieden, da er mit 33 Jahren bereits stirbt. Mit ihm stirbt auch das Geschlecht der Stück- und Glockengießer in kurfürstlich sächsischen Diensten aus.

 

Quellen:

  • Eichler, Hans-Georg †, Handbuch der Stück- und Glockengießer auf der Grundlage der im mittleren und östlichen Deutschland überlieferten Glocken, eingerichtet von Barbara Poettgen, Heft 2 der Schriften aus dem Dt. Glockenmuseum Burg Greifenstein, Greifenstein 2003
  • Thümmel, Rainer, Glockenguss in Sachsen, Digitalisat Stand: 18.05.2009

 

(Mit Dank an die Forscherfreunde Klaus Heyden und Henry Kuritz für ihre freundliche Unterstützung)

 


Ca. 1880 - Rudolf Schroeter erfindet das Ichthyol
Familientag Schroeter 1939 in Hamburg
Rudolf Schroeter in seiner Hexenküche

Der Vater von Margarethe Gedrath geb. Schroeter, Schullehrer Rudolf Schroeter, ist schon immer ein Bastler und Tüftler gewesen. Zu seinen Lehrfächern gehört die Chemie, darüber hinaus ist er besonders an geologischen Fragen interessiert. Er ist 1830 in Weischütz an der Unstrut geboren, wohin es seinen Vater als Pastor verschlagen hat. Später findet man ihn in der Provinz Posen wieder, wo er 1860 in der Kleinstadt Kempen Königlicher Rektor ist. Dort lernt er Emma Mittelstädt kennen, Tochter eines Glasfabrikanten, und heiratet sie auf Gut Karlshof bei Wronke. Um 1870 wird er nach Hamburg versetzt. Die Familie ist inzwischen schon gewachsen. Fünf Kinder sind in Kempen geboren; später sollen es  insgesamt zehn Kinder sein.

 

Mit dem kleinen Gehalt eines Lehrers ist es sicher nicht einfach, da noch etwas von dem Salär zu sparen. Deshalb kommt es ihm wohl sehr gelegen, dass der Hamburger Kaufmann Heinrich Cordes ihn als Hauslehrer für seinen Sohn engagiert. Auf einer Reise ins Karwendelgebirge, wo er nach Silbervorkommen suchen will, entdeckt Rudolf bei Seefeld statt Silber ein ölhaltiges Schiefergestein, aus dem die Bauern eine Art Schmiere herstellen, die sie Kühen und Pferden auf äußere Verletzungen streichen. Er hat sich sicher mit den Bauern unterhalten und dabei herausgefunden, dass diese Schmiere wegen des penetranten Geruchs auch Stinköl genannt wird und eine bereits sehr alte, regionale Tradition als Heilmittel für Mensch und Tier hat. Irgendwie schafft er es, von diesem Gestein genügend Material mit nach Hamburg zu nehmen, um damit zu experimentieren. Bis er ein Verfahren entwickelt, welches das aus dem Gestein gewonnene Öl in eine wasserlösliche Form verwandelt, ist in seinem Haus vermutlich eine Menge Gestank zu ertragen. Allerdings kann er als Chemielehrer mit schwefeliger Säure gut umgehen und das Öl aus dem Gestein lösen.

 

Gegen 1800 muss es soweit gewesen sein und das Produkt bekommt von ihm den Namen Ichthyol (zusammengesetzt aus Ichthys (griech.), der Fisch, und Oleum (lat.), das Öl). Vor Millionen von Jahren bestand die Gegend um Seefeld aus einer großen flachen Lagune. Die auf dem Lagunenboden abgelagerten Überreste abgestorbener Lebewesen wurden von Bakterien zu einer öligen Flüssigkeit umgewandelt und bei der Entstehung der Alpen in Gestein gepresst. Daher liegt der Name für ihn nahe. Er ist so von seiner Erfindung überzeugt, dass er sie entweder vorsorglich zum Patent anmeldet oder sich in der folgenden Phase Rechte an Produktion und Vermarktung sichert.

 

Herrn Cordes, dessen Sohn er unterrichtet, kann er gewinnen, sich mit der kaufmännischen Seite einer Produktion der heilsamen Salbe zu befassen. Und ein bekannter Hamburger Hautarzt kümmert sich um die Anerkennung der Substanz für die Humanmedizin.

 

Im Jahr 1884 ist es dann so weit. Heinrich Cordes und Gustav Hermanni gründen die Ichthyol-Gesellschaft Cordes, Hermanni & Co. in Seefeld, nahe an den Abbaustellen. Aus einer Zeichnung zum Familientag der Schroeterschen Kinder 1939 sind noch zwei weitere Namen ersichtlich, Herup und Gotschall, bei denen es sich eventuell um stille Gesellschafter handelt.

 

Rudolf Schroeter erntet natürlich viel Anerkennung für seine "Erfindung", aber er ist wohl doch mehr Tüftler als Kaufmann. Jedenfalls kann er mit seiner Familie nun gut leben, aber ein Vermögen erwirbt er nicht.

 

Die Firma existiert noch heute unter dem erweiterten Namen Ichthyol-Gesellschaft Cordes, Hermanni & Co. (GmbH & Co.) KG mit Sitz in Hamburg.

 

(Der Beitrag basiert auf Kirchenbüchern von Kempen/Posen und Wronke, auf der Chronik der Ichthyol-Gesellschaft sowie auf den Erinnerungen von Reinhart Stalmann in seinem Buch "Lieber Jonathan", Berlin 1999)